Die Insel Ishigaki


Ursprünglich wollten wir nach Miako reisen, einer der südlichen Inseln des Okinawa-Archipels. Doch dann kam der Zufall zur Tür herein und änderte unsere Pläne. Der Zufall trägt den Namen Mieko und ist eine angeheiratete Nichte, die Frau unseres Neffen Masanori. Sie stammt von der Insel Ishigaki und ihr Cousin betreibt dort ein kleines Hostel. Ein paar Anrufe später haben wir zwei Tage Unterkunft auf Ishigaki gebucht.
Ishigaki gehört zur Yaeyama-Gruppe, die aus etwa 23 Inseln besteht; die größten sind Iriomote, Miako und Ishigaki. Ishigaki hat etwa 48 Tausend Einwohner – und jährlich ein Vielfaches an Besuchern. Die südlichste dieser Inseln, Yonaguni, ist nur etwas mehr als 100 km von Taiwan entfernt. Nach Tokio sind es über 2000 km. Der Flug von Naha bis Ishigaki dauert vom Einstieg bis zum Verlassen des Flugzeugs etwa eine Stunde.

Ankunft auf Ishigaki
Mit etwas Geduld finden wir unsere Unterkunft, nicht ohne uns ein wenig zu verlaufen. Herr Makoto Hirata empfängt uns herzlich. Wir kommen im alten Haus der Familie unter. Der pensionierte Lehrer und ehemalige stellvertretende Schuldirektor (der Ruhestand beginnt in Japan im Alter von 60 Jahren) wohnt mit seiner Frau und dem jüngsten Sohn im Neubau auf dem gleichen Grundstück. Die älteren Kinder leben schon länger außer Haus.
Das Haus wurde in den sechziger Jahren im traditionellen Stil der Okinawa Inseln gebaut. Es ist ein offenes Fachwerkhaus mit einem gemauerten Ziegeldach und verschiebbaren Innen- und Außenwänden. Die senkrechten Balken  des Hauses stehen auf runden Korallenblöcken. Unter dem Fußboden kann die Luft zirkulieren.  Um das Haus zieht sich die traditionelle Mauer der Inselhäuser. Der Fußboden besteht aus Reisstrohmatten. Es gibt eine moderne Küche, ein Bad mit Toilette, eine Veranda vor dem Haus und einen kleinen aber schönen Garten. Bis zu zehn Leute können hier unterkommen, aber während unseres Aufenthalts wir haben das Haus für uns alleine.
Unsere Nichte Mieko hatte uns auf Nachfrage erzählt, gegrilltes Rindfleisch sei die Spezialität von Ishigaki. Das müssen wir natürlich probieren. Unser Gastgeber kennt eine Metzgerei, wo man das Fleisch kaufen und im Hof selbst grillen kann – das ist natürlich deutlich günstiger als in einem der Spezialitätenrestaurants. Er bringt uns in seinem Wagen hin, stellt uns vor und verspricht, uns später wieder abzuholen. Wir wählen zwei Portionen kleiner Steaks, dazu Gemüse und frische Pilze. Reis und Grillsauce gibt es noch dazu. Kurz danach braten Steaks und Beilagen auf dem Gasgrill. Das Fleisch ist zart und saftig, das Bier kühl und wir haben das Gefühl, dass es uns recht gut geht. Makoto Hirata holt später zwei satte und sehr zufriedene Gäste ab.
Den Rest des Tages verbringen wir im Haus, liegen in der Hängematte, machen Pläne für die kommenden Tage und unterhalten uns mit Makoto Hirata und seiner Frau. Am nächsten Tag wird uns Makoto-San die Insel zeigen.

Eine kleine Inselexkursion
Der südliche Teil der Insel ist relativ flach. Hier liegt die Inselhauptstadt mit etwa 40.000 Einwohnern und hier blüht auch die Landwirtschaft. Als erstes Ziel steuert Makoto Hirata den Banna-Park an. Es ist ein großes Naturschutzgebiet, dicht bewaldet. Der Wagen stoppt in der Nähe eines beliebten Aussichtspunktes nahe dem Gipfel des Banna-Berges. Wir steigen aus dem Wagen und sofort umgibt uns das laute Sirren der Zikaden. Von der Aussichtsplattform hat man eine hervorragende Sicht auf den Naturpark, den Berggipfel und einen großen Teil der Insel Ishigaki. Nach Norden geht der Blick auf das Bergland mit dem höchsten Berg der Präfektur Okinawa, dem 526 m hohe Omoto-dake. Sein breiter Rücken ist von zwei Türmen gekrönt. Nach Süden dehnt sich eine weite Ebene bis zur Küste.
Unser zweiter Stopp ist in der Nähe eines kleinen Stausees, der von einer weißen Hängebrücke überspannt wird. Morgens, sagt Makoto Hirata, kann man hier den Kronenadler sehen und den roten Königsfischer, einen Verwandten unseres heimischen Eisvogels. Nun, am späten Vormittag, hört man das laute Singen der Zikaden und die Rufe der Blaudrossel über dem dichten Wald. Und der ist eher schon ein Dschungel, üppig grün und verschlossen. Der Waldrand ist eine hohe grüne Wand, undurchdringlich und abweisend. Es geht gar nichts Einladendes von diesem fremden Wald aus. Er scheint mir zu zurufen: bleib draußen, wage es nicht, mich zu betreten!
Und doch hat er seine Verlockungen. Auf dem Blätterdach gibt es Stellen, an denen sich Dutzende von bunten Schmetterlingen versammeln. Dunkle Schwalbenschwänze, riesige Weißlinge mit schwarz geäderten Flügeln, tief orangefarbene kleine Falter und winzige Bläulinge mit intensiv schillernden Flügeln. Und der Wald duftet. Von Zeit zu Zeit trägt der Wind eine Wolke süßen Dufts zu uns herüber, ein Parfüm aus Vanille-, Kokos- und Maiglöckchenaromen. Makoto Hirata zeigt uns seine Quelle. Entschlossen greift er in die grüne Mauer des Waldes, biegt ein paar Zweige auseinander und legt eine Palme frei, deren Blätter an eine Dattelpalme erinnern. Die Blätter sind gelb bemehlt von Blütenpollen. Etwa 50 cm große Rispen entspringen aus dem Zentrum der Palme, daran sitzen bohnengroße gelbe Knospen. Die meisten sind schon dreigeteilt aufgeplatzt und lassen ein Büschel von Staubgefäßen und Stempeln frei. Eine süße Duftwolke hüllt uns ein!

Ein kompetenter Reiseführer
Makoto Hirata ist hier geboren und aufgewachsen, er kennt jeden Winkel der Insel – und scheinbar jeder kennt ihn. Er bringt uns zu einem privaten botanischen Garten voller Palmen und Bambus, Bougainvillea und vieler blühender Sträucher, die ich nie zuvor gesehen habe. Hauptattraktion des Gartens ist der Puderquastenbaum, auf Japanisch Sagaribana (Hängeblume), der nur nachts seine unglaublichen Blüten entfaltet. An einem gerade nach unten hängenden Stängel wachsen etwa zwanzig runde Knospen in der Größe von Murmeln. Sie platzen nach Einbruch der Dunkelheit nacheinander auf und die zahlreichen langestielten Staubgefäße bilden eine dichte Quaste von etwa 5 bis 7 cm Durchmesser. Bei Sonnenaufgang fällt die duftende Pracht  ab, nur der Fruchtknoten und die lange Nabe bleiben zurück.
Makoto-san kennt ein Insektenmuseum mit angeschlossener  Schmetterlingsfarm, das von Herrn Yamada betrieben wird, als Hobby, wie dieser betont. „Herr Yamada ist mein Lehrer in Sachen Natur“, erklärt Makoto-san. In den Schmetterlingsgehegen ist momentan nicht so viel los, einige der großen Weißlinge flattern umher. Umso interessanter ist Herrn Yamadas Sammlung. Seit er in der Grundschule war, sammelt er Schmetterlinge und Insekten. Auf Ishigaki hat er die örtliche Insektenfauna kartiert und sogar zwei bis dato unbekannte Arten entdeckt. Er arbeitet mit den Schulen der Insel zusammen und gibt Kurse in Insektenkunde.
Herr Yamada zeigt uns den Atlasspinner, einen der weltweit größten Schmetterlinge, der auch auf Ishigaki vorkommt. Als uns der Insektenforscher darauf hinweist, bemerken wir, dass das seltsame Muster der Flügel eine Schlange darstellt. Deutlich erkennt man Schlangenkörper, Auge und Maul. Wenn der Falter sich bedroht fühlt, bewegt er die Flügel – und Vögel, die den Falter fressen wollen, fliehen vor der erregten „Schlange“.

Kabira
Die Zeit reicht bei weitem nicht, um alles zu sehen. Die Insel ist ein riesiger Schatz der Schönheit, wohin man auch blickt, man entdeckt stets neue und verblüffende Dinge. Ich denke, ich könnte hier Jahre verbringen, ohne mich je zu langweilen. Wir fahren auf der Route 87 am Sokobara-Stausee vorbei durch das Bergland nach Norden und biegen dann nach links auf die Route 79 ein. Parallel zur Küste geht es zur Bucht von Kabira. Es ist eine der schönsten Stellen der Insel. Blaues Meer, weiße Strände, eingerahmt von dicht bewachsenen Ufern. Wir besuchen ein Ladengeschäft. Hier gibt es unter anderem Perlenschmuck aus der lokalen Perlenzuchtanlage. Masae wählt ein paar Ohrringe, allerdings mit blauen Glasperlen.
Makoto-san bringt uns danach zu einem seiner Lieblingsplätze. Durch die gepflegte Parkanlage führt eine asphaltierte Straße, das kurz getrimmte Gras ist dicht. Hüfthohe blühende Hecken säumen den Park, sorgsam beschnittene Büsche und Bäume stehen entlang der Straße. Die Aussicht geht weit über die Sakieda-Bucht zum Kap Ogan. Wir sind die einzigen Besucher. Es ist ein seltsames Gefühl, in diesem menschenleeren paradiesischen Park zu sein. Wer hat ihn angelegt? Und wofür? Es muss ein kleines Vermögen kosten, ihn instand zu halten. Für einen Moment kommt mir der absurde Gedanke, dass ich unbemerkt gestorben bin und nun in Elysium wandle... Wenn Herr Hirata, der maximal entspannt und freundlich lächelnd auf dem Gras liegt, als nächstes eine Dose Thunfisch öffnet und uns zu einem Picknick einlädt... Sie kennen den Witz von John im Himmel nicht? Ich erzähle ihn bei Gelegenheit.
Als wir weiterfahren, löst sich das Rätsel. Wir waren lediglich auf der Zufahrt zur exklusiven Ferienanlage Club Med Kabira. Was man sich halt so als Himmel vorstellt...

Das Ostchinesische Meer
Wir besuchen am Nachmittag das Kap Ogan mit seinem weißen Leuchtturm. Das felsige Kap besteht offenbar aus vulkanischem Gestein. Bizarre Felsformationen ragen in die See. Dahinter erstreckt sich das Ostchinesische Meer. Jenseits des Horizonts, etwa 155 Kilometer entfernt, liegt eine kleine unbewohnte Inselgruppe. Sie wird von Japan Senkaku und von China  Diaoyudao genannt und von beiden Ländern beansprucht. Es geht nicht nur um Rohstoffe – es soll größere unterseeische Methanvorkommen  geben – oder um Fischereirechte. China etabliert sich gegenwärtig als Weltmacht und will seine Seerouten militärisch sichern. Es führt ähnliche Auseinandersetzungen um strategisch interessante Inseln auch mit Vietnam und den Philippinen. Die militärische Präsenz der USA in Japan und speziell auf den Okinawainseln ist China ein Dorn im Auge. Diese politische „Großwetterlage“ bestimmt das politische Geschehen der gesamten Region. Die wachsenden Unabhängigkeitsbestrebungen und Freundschaftsbekundungen in Richtung China des gegenwärtigen Gouverneurs von Okinawa muss man auch vor diesem Hintergrund sehen.

Glühwürmchen
Eine Sache sollten wir heute unbedingt noch sehen, meint unser Guide – die Glühwürmchen von Ishigaki. So fahren wir nach Einbruch einen Umweg, der zu einer kleinen, unbeleuchteten Straße im dichten Wald führt. Die Glühwürmchen sind nur etwa eine halbe Stunde aktiv, sagt Makoto-san. Er schaltet die Autoscheinwerfer aus. Für etwa eine Minute in stehen wir in völliger Finsternis. Das Gehör ist zunächst der einzige Sinn, mit dem man die Natur ringsum wahrnimmt. Seltsame Vogelrufe, das Quaken von Fröschen und viele weitere rätselhafte Geräusche – meine Nackenhaare richten sich auf. Allmählich dringt aus dem Dunkel das phosphoreszierende Leuchten der kleinen Insekten. Auf den Zweigen und Blättern, auf dem Boden funkelt und blinkt es. Hunderte von Leuchtpunkten bewegen sich rings um uns. Das wäre eine hervorragende Gelegenheit für eine Live-Composite-Aufnahme. Leider kann ich das Display meiner Kamera nicht ausklappen. So stehen wir staunend in dem funkelnden Gewimmel. Die kleinen Insekten schwirren ganz dicht heran. Man kann sie mit der Hand fangen und wieder fliegen lassen.

Blick vom Banna-Park zum höchsten Berg Okinawas

Bougainvillea

Unbekannte Schönheit

Die Bucht von Kabira

Am Kap Ogan

Die duftende Palme

Herr Yamada zeigt seine Sammlung
Der Atlasspinner mit den Schlangenbildern auf den Flügeln
Links
Homepage von Makoto Hirata – http://hirata.asia
Makoto Hirata auf Facebook –https://www.facebook.com/makoto1955


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