Arashiyama
Wir besuchen das Schloss Nijo des Shogun Ieyasu Tokugawa, der am Übergang zum 17. Jahrhundert Japan einigte. Es ist die perfekte Kulisse großer Macht. Nicht martialisch und vordergründig zeigt sie sich, sondern sehr ästhetisch, subtil und dennoch unmissverständlich. Die Wandgemälde mit goldenem Hintergrund, meist Landschaften in verschiedenen Jahreszeiten, sind große Kunst. Als Besucher geht man an all dieser Schönheit staunend vorüber. Erheiternd fand ich einen Teil des Flurs um den Wohnbereich des Shogun. Die breiten Dielen quietschen bei jedem Schritt melodisch. Dieser Teil wird "Nachtigallenflur" genannt. Angeblich sollte so verhindert werden, dass sich jemand unbemerkt nähert. Doch der Shogun verbrachte hier nur wenig Zeit. Er zog bald in ein bis dahin völlig unbedeutendes Fischerdorf namens Edo - das heutige Tokio.
Der Zufall findet in einem traditionellen japanischen Garten nicht statt. Jedes noch so kleine Detail ist sorgfältig geplant, perfekt ausgeführt und wird mit Hingabe gepflegt. So kunstvoll ist der Garten angelegt, dass er von nahezu jedem Standpunkt aus ein Bild vollkommener Harmonie bietet. Die Ensembles aus Baumgruppen,Teichen, Felsen, Wegen, Brücken, Gehölzen und Stauden sind mit großem Kunstsinn komponiert. Es ist, als bewege man sich in einem lebendig gewordenen Gemälde. Und wenn ein leichter Regen aufkommt und die Besucher ihre Schirme aufspannen, dann scheinen selbst sie geplanter Teil dieser Inszenierung zu sein. Alles wirkt natürlich, und ist doch das genaue Gegenteil davon. Es ist höchste Kunst - und damit hochgradig künstlich.
Die romantische Bahn
Es gibt etwas im Norden von Kyōto, das ich unbedingt sehen will: den Bambushain von Arashiyama. Der Norden der Stadt war schon immer das bevorzugte Sommerquartier der oberen Schichten Kyotos. Hier, in den waldigen Hügeln ist es in der heißen Jahreszeit deutlich kühler und angenehmer als im Talkessel, wo die Sommersonne die Temperaturen ins Unerträgliche treibt.
Vom Bahnhof Arashiyama Torokko fährt auch der Romantische Zug ab. Müsst ihr unbedingt machen, hatte unsere älteste Tochter gedrängt, die ein Jahr in Kyoto studierte. Eine alte Diesellok zieht die zum Teil offenen Wagen durch das enge Tal des Flusses Katsura. Die Fahrt ist beliebt bei Touristen, und so sind alle Plätze besetzt, als sich der kleine Zug geräuschvoll in Bewegung setzt. Laut ist auch die Kindergartengruppe im Wagen hinter uns, vor allem in den zahlreichen Tunnels ertönt ein vielstimmiges Schreien, Jauchzen und Keischen. Einige der Kinder halten sich aber gegenseitig doch lieber ganz fest an der Hand, wenn Dunkelheit und grollendes Gepolter über die Fahrgäste hereinbrechen.
Der Katsuragawa hat eine enge Schlucht in den harten Fels geschnitten. Das türkisfarbene Wasser fließt meist rasch und zum Teil reißend über Stromschnellen, windet sich in drei Flusschleifen um Felsbarrieren und kommt erst nahe dem Ort Arashiyama einigermaßen zur Ruhe. Es muss aufregend sein, in einem der Boote zu sitzen, die von geschickten Schiffern durch die schäumenden Fluten gelenkt werden.
Sieben Brücken queren das Tal. Fünf davon tragen die Züge der Hauptbahnstrecke über den Fluss, eine den Romantischen Zug und die siebte - eine Hängebrücke für Fußgänger - ist ein beliebter Drehort für Krimis.
Die Hänge des Tals sind dicht bewachsen, überwiegend mit japanischem Bergahorn. Jetzt, im Mai, leuchten die kleinen Blätter in zartem Grün. Im Herbst aber ist der Wald flammend rot und orange gefärbt, die beste Zeit für einen Besuch.
Wir haben Kameoka, die letzte Station erreicht. Hier sind viele Figuren des Marderhundes zu sehen, der in Japan Tanuki heißt. Es gibt viele Märchen und alte Geschichten, in denen der Tanuki eine wichtige Rolle als magisches Wesen mit einem leicht zwiespältigen Charakter spielt. Er kann sich verwandeln, am liebsten in einen gusseisernen Wasserkessel. Die hier ausgestellten Figuren gibt es in diversen Größen; sie sind überwiegend männlich, tragen Strohhüte wie Bauern und haben mächtige Hodensäcke. Die wenigen weiblichen Tanuki haben runde Brüste und, ja, natürlich keine Hodensäcke.
Alle Passagiere steigen aus und wechseln die Plätze. Der Zug fährt wieder zurück, und wer auf der Hinfahrt rechts saß, sitzt links und kann nun sehen, was er zuvor verpassen musste. Doch ich verbringe eh den größten Teil der Fahrt am Fenster stehend, die Kamera am Auge, den Zeigefinger auf dem Auslöser.
Ein altes Gasthaus
Nach dem Ausstieg in Arashiyama Torokko vertreten wir uns im angrenzenden Park ein wenig die Beine. Es sind Schulklassen in ihren typischen Uniformen unterwegs, meist rasten sie auf dem Rasen Die Lehrer stehen meistens, wie Schäfer überragen sie ihre kleine Herde. Wir aber gehen bis zu einem Aussichtspunkt, von dem man in das Tal des Katsuragawa sehen kann. Tief unter uns fahren zwei Boote auf dem hier ruhigen Fluss. Eines legt am Steg vor einem Gasthaus am Ufer an. Ein paar Passagiere steigen aus. Der Fluss, das Gasthaus, der dichte Wald und die Boote - die Szene ist aller Zeit entrückt. Das Gasthaus, so hatte uns der Zugbegleiter unterwegs erzählt, hat kein Fernsehen, kein Internet und und auch sonst wenige der modernen Annehmlichkeiten. Es ist ein traditionelles Ryokan mit Mineralbad (Onsen) im alten Stil.
Bambushain
Bereits bei der Fahrt mit dem Bus und dem Shinkansen sind sie mir aufgefallen, die regelmäßigen und für meine Augen ungewohnten Muster der Zweige und Blätter, genau wie auf den Tuschezeichnungen - Bambus. Bis dahin dachte ich, die Zeichnungen aus Japan und China wären stilisiert, vereinfacht. Aber die riesigen Gräser sehen wirklich so aus. Sie mir genau und von nahem anzusehen, gehe ich mit Masae zum bekannten Bambuswald von Arashiyama. Der liegt nur ein paar Schritte vom Park entfernt und auf dem Weg zum Zug, der uns zurück zum Stadtzentrum bringt.
Ein befestigter Weg führt mitten durch den Hain aus gewaltigen Halmen. In den Hain selbst kann man nicht gehen. Angesichts der vielen Besucher sicherlich eine notwendige Beschränkung. Im Touristenmodus wird der Mensch, vor allen im Ausland, leider oft zum Herdentier, bei dem das Großhirn auf Stand-by geschaltet ist. Jede Rücksicht ist ihm dann fremd. Man wird seiner nur durch straffe Organisation und eben - Zäune Herr.
Die Farben des Bambus sind überwiegend kühl. Dunkelgrün die einjährigen Halme, zu immer hellerem Grau-Blau verblassend, schließlich in ein ein stumpfes Beige übergehend, wenn die Halme trocken werden. Zwischen den Halmen der Vorjahre bahnen sich die diesjährigen ihnen Weg zum Licht. Zunächst ragt nur eine grün befiederte, schwarz behaarte Spitze aus der Erde. Take no Ko - Bambuskind, nennen die Japaner diesen Spross und verwenden ihn gern als Gemüse. Wenn er nicht geerntet wird, erreicht er innerhalb weniger Tage mehrere Meter Höhe. Dabei verliert er nach und nach seine behaarten Halmscheiden und entblößt seine tief grün glänzende, glatte Haut. Bis zum frühen Sommer hat er seine maximale Höhe von mehr als zehn Metern erreicht und treibt ganz oben Zweige mit länglichen Laubblättern.
Der Anblick der schlanken Halme, die sich kaum merklich im Wind neigen, bewegt mich sehr. Es wäre schön, eine längere Zeit einfach still zuzusehen und den Anblick auf die Seele wirken zu lassen, dem leisen Rauschen der Blätter zu lauschen...
So aber schließe ich mich wieder den Lemmingen an, die durch ein Getreidefeld laufen, Lemmingen mit Kameras und Handys.
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