Die Reise nach Kusatzu

Wir verlassen das schöne Land nördlich des Fujiyama auf dem gleichen Weg, den wir gekommen sind - mit dem Linienbus. Die Präfektur Yamanashi liegt abseits der schnellen Verkehrswege. Der Shinkansen macht eine großen Bogen um das Land. Auf diesem Bogen fahren wir am frühen Nachmittag von Tokyo nach Kyoto. Zwischen den Städten Fuji und Shizuoka sehen wir den Fujiyama wieder. Von Süden aus wirkt er weniger symmetrisch als von Norden, ist aber nicht weniger schön. Am Zugfenster zieht der Berg  innerhalb weniger Minuten vorbei.

Der Zug rast mit nahezu 300 Stundenkilometern. Er braucht für die Strecke von Tokyo bis Kyoto einschließlich der Stops weniger als zwei Stunden. Auch die Beschleunigung  ist beeindruckend. Nahezu ohne Ruckeln schiebt der Zug an und steigert die Geschwindigkeit so gleichmäßig, dass kein unangenehmes Gefühl entsteht. Nur die immer schneller vorbeihuschenden Häuser, Masten und Bäume vermitteln eine Ahnung davon, wie rasant man mit dem Shinkansen unterwegs ist.
Wir stoppen auf halber Strecke und treffen alte Bekannte. Familie Y. lebte für acht Jahre in Europa, fünf davon in Deutschland, wo wir uns kennengelernt haben. Es ist ein Wiedersehen nach mehr als 25 Jahren. Die Zeit ist nicht gnädig mit uns gewesen. Am besten sind noch die Ehefrauen davon gekommen. Mitchiakis rechte Gesichtshälfte ist gelähmt – eine Nervenentzündung. Mich hat das Haupthaar bis auf bescheidene Reste verlassen. Seit der Rückkehr nach Japan hatte das Ehepaar Y. einen harten Weg. Doch sie haben vier Kinder großgezogen, auf die sie mit Recht stolz sind.

Eigentlich ist Mitchiaki Maler, doch wie schon Wilhelm Busch wusste, kommt man leichter zum Bildermalen als zu Leuten, die es bezahlen. So gibt er Malunterricht, stellt gelegentlich aus und leidet unter dem mangelnden​ Talent vieler seiner Schüler. Und er leidet an Fernweh nach Europa, speziell nach Deutschland. Dort hatten er und seine Frau ihre glückliche Zeit als junges Paar, ihre ersten Kinder kamen in Deutschland zur Welt. Er fühlt sich nicht mehr recht heimisch unter seinen Landsleuten, sagt er, mit den Deutschen käme er besser zurecht.

Die Situation hat etwas Spiegelvekehrtes. Ich fühle mich in Japan pudelwohl, sehe die Defizite meiner eigenen Kultur in schmerzhafter Deutlichkeit vor mir und kann mir sehr wohl vorstellen, hier glücklich zu leben. Mitchiaki und ich hatten beide schöne Erfahrungen im Land des jeweils anderen. Vielleicht ist es so, dass Menschen Fremden gegenüber leichter ihr eigentliches Selbst zeigen, als zu den eigenen Landsleuten. Sie brauchen nicht die Person zu sein, für die Andere sie halten. Das gilt für das Negative wie für das Positive.

Wir philosophieren ein wenig beim Essen, während die Ehefrauen über Konkretes reden, über Kinder, den Beruf, die Politik. Viel zu schnell kommt der Abschied; wir müssen wieder zum Zug. Wir versprechen einander, engeren Kontakt zu halten.
Während wir mit dem Shinkansen nach Kyoto eilen (wir müssen dort in den Regionalzug umsteigen) schaue ich nach, ob es Nachrichten zu unserer Unterkunft in Minami Kusatzu gibt. Der Zug hat freies WiFi. Ich hatte am Tag zuvor erfolglos versucht, die Vermieterin telefonisch zu erreichen. Sie hatte sich per Mail entschuldigt, dass sie nicht zurückrufen könne, da sie mit dem Flugzeug unterwegs sei. Oha, dachte ich, die Wohnung einer Stewardess. Das kann eng werden, wenn sie zurückkommt. Nun ist eine Nachricht von ihr gekommen mit dem Nummerncode für die Haustür. Immerhin.

Wir haben einen Stadtplan mit einer Wegbeschreibung zur Wohnung ausgedruckt. Es sei nur sechs Minuten vom Bahnhof, heißt es da. Zwei Probleme gibt es zunächst, von denen ich eines noch gar nicht erkenne. Das erste, es gibt kaum Straßenschilder in Japan. Das zweite, ich gehe bei einem Plan immer davon aus, dass oben gleichzeitig Norden ist. Das erweist sich als falsch, als wir nach fünf Minuten einen freundlichen Passanten nach dem Weg fragen. Wir müssen zum Bahnhof zurück und in die entgegengesetzte Richtung gehen. Hätte ich doch auf Masae gehört. Sie hatte schon bald darauf gedrängt, jemand zu fragen. Doch der Plan war für mich vollkommen klar... dachte ich. Aber jetzt! Mit zuversichtlicher Entschlossenheit gehen wir unter meiner Führung weiter. Masae wird verständlicherweise grantig, als wir nach fünfzehn Minuten immer noch unterwegs sind. Meinen Aussagen, dass wir einfach weiterlaufen müssen, glaubt sie immer weniger. Der Plan ist nämlich zweiteilig und, nein, ich hätte den zweiten Teil nicht an- sondern teilweise darüber legen sollen. 

Na gut, wir können ja wieder jemanden fragen. Wir sind gerade in einem Neubaugebiet angekommen. Es ist dunkel. Niemand außer uns ist unterwegs. Ich bin sicher, es muss ganz in der Nähe sein. Also klingele ich an einem der Häuser. Die Leute werden sich doch in der Nachbarschaft auskennen!  Eine höchst misstrauische Dame sagt, dass sie uns nicht helfen kann. Hmmm, vielleicht nur noch Hundert Meter weiter... Hier ist auch der Bach, der auf dem Plan zu erkennen ist...
Ein Radfahrer kommt uns entgegen. Wie sich herausstellt, ein Oberschüler, der gerne in Deutschland studieren will. Er zückt das Smartphone und führt uns zur Adresse. Wir waren schon ganz in der Nähe gewesen, sind quasi daran vorbei gelaufen und gehen nun wieder zurück. Hier muss es sein, sagt unser spontaner Fremdenführer nach einer Weile. Dankbar schenkt ihm Masae einige quadratische Täfelchen Schokolade aus Deutschland. 

Ich schaue das betreffende Haus an. Keine der Türen hat ein Zahlenschloss. Aber die Türen vom nächsten Haus haben. Doch um dorthin zu kommen, müssen wir nochmals um den halben Block, weil wir nicht über den Maschendrahtzaun klettern wollen. Das ist es dann wohl wirklich, da steht auch der Name "Petit Maison"! Drei Stockwerke, zwölf Wohnungen - welche ist unsere? Ich kann die Vermieterin nicht telefonisch erreichen und ohne WiFi bin ich von der Welt abgeschnitten. Allmählich komme ich mir vor wie in einem verzwickten Computerspiel: Das letzte und schwierigste Level wartet auf uns.

Ich gehe zur Frontseite des Hauses und versuche mir zu merken, wo Licht brennt. Diese Wohnungen kann ich ausschließen. Bleiben sechs übrig.  Ich werde den Code einfach durchprobieren, bis sich eine Tür damit öffnen lässt. Wie ein Einbrecher husche von Tür zu Tür. Keine will mich einlassen. Was sage ich, wenn jemand die Polizei ruft? Allmählich beschleicht mich eine leichte Verzweiflung. Vielleicht mache ich etwas falsch? Wenn ich die beiden Sternchen vor und nach der Zahlenfolge auch eingebe...  Appartment 102 lässt sich öffnen. Endlich, nach mehr als einer Stunde des Irrens und Umhertappens sind wir am Ziel.

Es ist eine Einraumwohnung, wie man in den neuen Bundesländern sagt. Mit Kochnische, Nasszelle und winzigem Balkon, ebenso praktisch wie unpersönlich. Das ist keineswegs das Zuhause einer gestressten Stewardess, sondern ein Appartement, das regelmäßig vermietet wird. Darauf deutet auch das Schild hin, mit dem man auf Englisch, Chinesisch und Koreanisch aufgefordert wird, die Schuhe vor dem Betreten der Wohnung auszuziehen.

Wir testen das Bad. Die Armaturen sind gewöhnungsbedürftig. Die Reaktionen auf unsere Bedienversuche fallen teilweise überraschend aus. Es braucht eine Menge Fingerspitzengefühl, Geduld und Zähnezusammenbeißen, wenn sich die Temperatur nicht gleich wie gewünscht einstellen lässt. Versucht man beispielsweise den Wasserdurchfluss der Dusche zu reduzieren, fängt die Leitung an zu vibrieren und zu... ja, was? Die Hochsprache kennt kein passendes Verb für ein niederfrequentes und geräuschvolles Rütteln. In manchen Gegenden Bayerns sagt man, es rampft. Hier rampft es, dass das es ganze Appartement schüttelt. 

Wir sind dann doch rechtschaffen müde von unseren heutigen Abenteuern und legen uns ins Bett. Als letztes höre ich vor dem Einschlafen, dass es irgendwo rampft.

Der Shinkansen ist eine elegante Erscheinung...

... auch von hinten

"Salarimen" warten auf ihren Zug

Der Servicetrupp signalisiert: der Zug ist bereit

Im Inneren des Zuges – nicht luxuriös aber bequem

Shinkansenspiegelung

Der Fujiyama von Süden...

... aus dem Zugfenster fotografiert

Meist ist er hinter Industriegebieten zu sehen
Wiedersehen nach über 25 Jahren
Der Bahnhof von Minami (Süd-) Kusatzu



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