Erste Eindrücke von Kyoto

Nun also geht es nach Kyoto. Die Millionenstadt ist ungemein reich an kulturellen Schätzen. Wir werden es in den kommenden Tagen nicht schaffen, alle zu besuchen. Eine solche Ballung historischer Gebäude ist ungewöhnlich in Japan und hat einen Grund. Es gibt in England, Deutschland und Japan je eine Stadt, die im 2. Weltkrieg bewusst nicht großflächig bombardiert wurde. Das sind Oxford, Heidelberg und Kyoto. Eigentlich hätte sich Kyoto besonders für den Abwurf der Atombombe geeignet. Wegen der Lage Kyotos in einem Talkessel wäre die Bombe besonders wirksam gewesen. Der damalige Kriegsminister Henry L. Stimson kannte die Stadt und ihre kulturelle Bedeutung. Er setzte sich gegen General Leslie R. Groves durch, der Kyoto ganz weit oben auf seiner Liste hatte. 14 Tempel und andere Kulturschätze Kyotos gehören heute zum Weltkulturerbe.

Wenn man mit dem Zug kommt, ist das erste Auffällige an Kyoto der Bahnhof – eine hochmoderne Kathedrale der Mobilität in Stahl und Glas. Ein immenser Lichthof lässt den Blick frei bis unter das kühn geschwungene Dach steigen. Fünf Ebenen, nicht Stockwerke, über Tage und zwei unterirdische mit Geschäften, Restaurants und Büros, die Stimmen aus den Lautsprechern, das Gewusel der Reisenden, die immer in Eile zu sein scheinen – es ist atemberaubend.

Wir machen gleich weiter mit dem modernen Kyoto. Gegenüber dem Bahnhof steht der 131 Meter hohe Kyoto-Tower. Als Sockel dient ein etwa 30 Meter hohes Gebäude, mit einem Hotel und Läden. Darauf throhnt, wie eine halbierte Discokugel mit der Rundung nach unten, das dreistöckige Restaurant​ "Sky Lounge". Daraus wächst der Betonfinger des Turms. Der Lift bringt uns auf die Aussichtsplattform in 100 Metern Höhe. Mit einer kleinen Melodie öffnen sich die Aufzugstüren – Kyoto liegt uns zu Füßen. Augen und Hirn können die Fülle gar nicht fassen. Hochhäuser und Verkehrswege, Wohnquartiere und Parks, bewaldete Höhen im Norden und dazwischen immer wieder Tempel, Schlösser und Schreine. Das Moderne neben dem Historischen, Oasen der Stille neben Zentren verwirrender Aktivität. Später, wenn ich die Fotos im Computer bearbeite, werde ich vielleicht erkennen, was hier alles zu sehen ist.

Die verglaste Plattform hat ringsum eine Art weitmaschiges Geländer aus Stahlträgern. Sie sind in einem hellen Rot gestrichen, das einen Stich Richtung orange hat. Die Farbe wird uns in den kommenden Tagen noch oft begegnen.
Neben dem Lift entdecke ich einen kleinen Schrein. Zettel mit Fürbitten hängen dort, es gibt ein etwa zwei Meter hohes Tori – eines der allgegenwärtigen shintoistischen symbolischen Tore –, eine Spendenbox und im Inneren des Schreins eine goldene Figur. Es ist "Tawawa-Chan" das Maskottchen des 1964 fertiggestellten Kyoto-Tower! Die pummelige Stilisierung des Turms gibt es auch als Schlüsselanhänger​, als Nippesfigur und so weiter und so weiter – Merchandising eben. Sie als Gegenstand der Verehrung in einem Schrein zu finden, überrascht mich dann doch.

Das Verhältnis zum Spirituellen ist in Japan offenbar völlig anders als in Europa. Alltag und Geistiges sind keine zwei Reiche unterschiedlicher Herrschaft. Sie durchdringen einander bis an die Grenze des Banalen. Ich will damit nicht sagen, Spiritualität sei in Japan etwas Banales, doch das Banale kann hier auch auch Teil der Spiritualität sein.

Vom Aussichtsturm haben wir unser erstes Ziel ausgewählt. Tokiwa cho ist eine große buddhistische Tempelanlage, nur wenige Gehminuten vom Bahnhof entfernt. Der richtige Name lautet Higashi (der östliche) Hongan Shi. Die riesige Gründerhalle wurde 1895 errichtet. Nicht zum ersten Mal. Das Gebäude, vermutlich der größte Holzbau der Welt, ist zuvor schon mehrmals abgebrannt und wiedererrichtet worden. Die traditionelle japanische Baukunst ist beeindruckend. Sie hat faszinierende Techniken entwickelt und wunderschöne Tempel, Pagoden und Schlösser geschaffen. Die Gebäude halten ohne einen einzigen Metallnagel zusammen und überdauern in einem Erdbebengebiet Jahrhunderte. Und es ist ein Genuss, sie anzusehen. Das dunkle, fast schwarze Holz der Balken ist nur an wenigen Stellen bemalt. Die gewaltigen Dächer mit ihrem eleganten Aufwärtsschwung an den Ecken, die Verzierungen​ an den Toren, die Proportionen der Gebäudeteile und die Stimmigkeit des ganzen Ensembles beeindrucken mich tief. Es ist japanisches Stilempfinden in Reinkultur. Natürlich hat die Anlage einen bezaubernden Garten. Doch den japanischen Gärten will ich mich später widmen. 


Der moderne Haupbahnhof von Kyoto...

ist eine beeindruckende Kathedrale...

... der Mobilität.


Blick vom Kyoto Tower

Der Tempel Higshi Hongan Shi

Tradition und Modern in der Architektur

Ein Shinkansen verlässt Kyoto
Spiegelung in der Bahnhofsfassade

Taxis vor den Hauptbahnhof in Kyoto
Tawawa-Chan – der Gott des Kyoto Tower in seinem Schrein
Gebetsanliegen am Tawawa-Chan Schrein



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