Kyomizudera
Der Tempel des Klaren Wassers ist eine der vielen Sehenswürdigkeiten der schönen Stadt Kyōto. Man brauchte sehr viel Zeit, sie alle zu sehen und ihrer Bedeutung und Schönheit entsprechend zu würdigen. Diese Zeit haben wir nicht. Wir wählen aus. Und jede Wahl ist auch ein Stück Qual, denn wählen heißt ja auch verwerfen. Eine Möglichkeit ist, dem Superlativ zu folgen: die berühmtesten Plätze aufzusuchen, den größten Tempel zu sehen, das älteste Schloss... Aber ich habe in meiner Arbeit als Journalist und im Marketing gelernt, dem Superlativ zu misstrauen. Also geht es nach persönlichen Vorlieben.
Wie jede japanische Großstadt hat Kyōto einen gut funktionierenden ÖPNV. Der Bus bringt uns zur entsprechenden Haltestelle, dann folgt eine kurze Orientierungsphase, und wir gehen los. Nach Stadtplan wähle ich den kürzesten Weg. Er führt durch eine kleine Tempelanlage, die wir nach etwa 100 Metern durch ein Tor auf der linken Seite wieder verlassen. Eine relativ schmale Straße führt nun leicht bergan zu unserem Ziel. Nur wenige Menschen sind mit uns unterwegs. Das finde ich erstaunlich, denn Kyomizudera sollte eigentlich ein populärer Ort sein. Es würde mich aber überhaupt nicht stören, wenn weniger Leute dort wären. Nach einer Weile wird mir klar, weshalb wir nahezu allein unterwegs sind. Wir gehen durch einen riesigen Friedhof. Dicht an dicht ragen die Stelen, polierter Granit zumeist bei den neueren Grabstätten, angewitterter, rauher Stein bei den älteren - ein Paradies für Flechten. Gegen Ende des Weges wende ich den Blick zurück. Die Gräber sehen aus wie eine Luftaufnahme Manhattans. Weit im Tal liegt die Stadt mit ihrem Wahrzeichen, dem Kyōto-Tower.
Unser einsamer Weg biegt nach links, wir nähern uns dem Ziel. Der monotone Gesang eines Mönchs weist uns die Richtung. Am Eingang zum Tempelbereich steht er, eine Gestalt im Pilgerkleid, mit einem traditionellen Strohhut auf dem Kopf, eine Schale für Spenden in der Hand. Er scheint von allem um ihn herum unbewegt zu sein, ob er eine Spende erhält oder nicht, sein Tonfall bleibt der gleiche, sein Gesichtsausdruck verändert sich nicht.
Es sind doch recht viele Besucher hier. Wie dreizehn andere Sehenswürdigkeiten Kyōtos ist auch der Tempel des Klaren Wassers Weltkulturerbe. Das Zentrum der Anlage ist eine gefasste Quelle. Aus drei dünnen Röhren rinnt das Wasser vom Dach eines kleinen Pavillons und fällt in ein steinernes Becken zwei Stockwerke tiefer. Wer will, stellt sich geduldig in eine lange Menschenschlange, ergreift eine langstielige Kelle wenn er an der Reihe ist, fängt von dem herabrinnenden Nass auf, gießt sich davon in die Hand... Und wer des Brünnleins trinket... Ich habe nicht davon getrunken, vielleicht wäre ich ja jung geworden und würde nimmer alt...
Man sieht junge Damen in farbenfrohen Kimonos, die Haare hochgesteckt und an den Füßen die eleganten Sandalen mit dem Steg zwischen dem großen Zeh und dem... Zeigezeh? Ihre männlichen Begleiter tragen ebenso typisch japanische Kleidung. Doch diese "Japanerinnen und Japaner" sprechen Koreanisch, Chinesisch oder Englisch miteinander. Man kann sich die Kimonos und das Zubehör nämlich ausleihen.
Und wie an jeder heiligen Stätte kann man auch hier geweihte Amulette erwerben, je nachdem was man braucht. Masae hat mir schon zwei in Kawaguchi gekauft. Wenn Du das überall machst, sage ich zu ihr, sehe ich am Ende aus wie ein Weihnachtsbaum.
Aber ohne etwas zu kaufen kommen wir trotzdem nicht davon. Wenn auch nicht im Tempelbereich. Denn der Rückweg führt uns durch die "richtige" Straße. Es ist eine Ladenstraße, etwa 500 Meter lang. Hier kommen die Besucher normalerweise durch. Und es sind ihrer viele. Es gibt lokale Spezialitäten zu kaufen, die lauthals angepriesen werden. Neben den Leckereien findet man auch allerlei nützliche und schöne Sachen, Fächer zum Beispiel oder zweiteilige Essstäbchen für die Reise. Die hatte sich Rebecca gewünscht.
Zwischen den gut besuchten Läden sehe ich ein Grundstück, auf dem nichts verkauft wird. Ein steinernes Tor führt zu einem Schrein. Ein unerwarteter Ort der Stille in all dem Trubel ringsum. Auch das ist für mich ein sehr japanischer Kontrast.
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