Eintopf in Nagahama
Am Bahnhof von Kawaguchiko kaufen wir zwei Touristentickets für die lokalen Busse. Damit kann man für zwei Tage bestimmte Linien nutzen, die zu interessanten Plätzen fahren. Wir entscheiden uns für die grüne und die rote Linie. An der Bushaltestelle warten schon viele Mitreisende, Touristen aus der ganzen Welt. Nordeuropäer – meist jüngere Paare, US-Amerikaner, Leute aus Hongkong und Singapur, Festlandchinesen, Paare aus Malaysia – die Frauen stets mit Kopftuch, dazwischen wir: ein älteres deutsch-japanisches Ehepaar.
Unser Ausflug führt uns heute Nachmittag zum Saiko. Die Silbe "ko" hat im Japanischen mehrere Bedeutungen, je nachdem, welches Schriftzeichen verwendet wird. In diesem Fall bedeutet sie See. Die Fahrt mit dem Bus dauert eine gute Stunde. Sie führt am südlichen Ufer des Kawaguchisees entlang, rechts der See und links die Berge. Die Straße ist kurvig; es reiht sich Bucht an Bucht. Immer wieder stoppt der Bus und entlässt Fahrgäste oder nimmt neue auf. Haltestellen sind an Campingplätzen, Hotels, Jugendherbergen, Wassersportparks oder Sehenswürdigkeiten wie die Lavahöhlen.
Wir steigen an der Bushaltestelle Nagahama aus. Hier ist das Ende des Kawaguchisees – und so gut wie nichts los, wie wir sogleich feststellen, nachdem der Bus weggefahren ist. Nicht einmal eines der bunten Schnellrestaurants ist hier, die sonst nahezu überall zu finden sind. Wir gehen zum Strand, ja, es ist ein Strand... Dort sind Angler zugange. Es gibt einen Parkplatz auf der Standseite und gegenüber ein paar Häuser an der T-Kreuzung. Masae übersetzt das Banner am Eingang eines der Häuser. "Udon" steht da - also dicke Nudeln. Wir schauen uns an. Wieso nicht?! Und sowieso ist Mittagszeit. Wir gehen auf Trittsteinen im Rasen zum Eingang.
"Konichi ha!" – "Guten Tag", rufen wir in das Halbdunkel. Eine freundliche Stimme beantwortet unseren Gruß. Wir ziehen die Schuhe aus und treten in die mit Reisstrohmatten ausgelegte Gaststube. Diese, Tatami genannten, Matten haben eine Standardgröße von 180 x 90 cm. Anhand der Anzahl von Tatamis wird die Zimmergröße berechnet. Ich zähle die Matten der Gaststube nicht, aber 20 Sitzplätze. Neben den traditionellen niedrigen Tischen gibt es an der Fensterseite eine Reihe von Tischen mit Stühlen. Hier finden wir Platz, wo auch ich entspannt sitzen kann.
Das Lokal strahlt eine zurückhaltende Gediegenheit aus. Ob wir uns in die falsche Preiskategorie verirrt haben? Die freundliche Dame, die uns bedient, ist etwa 80 Jahre alt. Wie sich herausstellt, betreibt sie das Lokal seit vielen Jahren zusammen mit einer etwa gleich alten Freundin. Sie empfiehlt uns "Hohtoh", eine Spezialität der Präfektur Yamanashi. Wir nehmen die Empfehlung an. Die Dame hat mit ihrer natürlichen und herzlichen Art sofort unser Vertrauen gewonnen.
Während wir auf das Essen warten, kommen weitere Gäste. Wir nehmen uns das wie überall kostenlose gekühlte Wasser und probieren das hausgemachte Salzgemüse als Vorspeise – angenehm pikant und hervorragend gewürzt. Wir fühlen uns sehr wohl.
Das Hauptgericht kommt. Auf je einem dickeren Holzbrett trägt die Wirtin einen gusseisernen Henkeltopf herbei. Dazu für jeden eine kleine Schale und einen hölzernen Schöpflöffel. Als ich den Holzdeckel vom Topf nehme, dampft mir ein herrlich würziger Duft entgegen. In einer kräftigen Brühe schwimmen Gemüse, verschiedene Pilze, Möhrenstücke, Kürbis und offenbar handgemachte breite Nudeln. Ein richtiger Eintopf. Doch werde ich das alles aufessen können? Es sieht nach einer großen Portion aus.
Ich esse alles auf. Der Eintopf ist einfach zu lecker. Eigentlich bin ich kein großer Freund von. Kürbis. Ich habe aus meiner Kindheit Erinnerungen an ein Gemüse, das nach gar nichts schmeckt. Wieso essen Menschen so etwas überhaupt, fragte ich mich damals und habe Kürbis möglichst gemieden. Doch dies hier ist etwas völlig anderes! Goldgelb mit einer etwas festeren und essbaren grünen Schale, der Geschmack eher nussig, kräftig, leicht süß. Ich bin begeistert! Die Krönung des Ganzen aber ist die Brühe. Sie ist wie eine kulinarische Hintergrundmelodie, sie trägt die Solisten, kann aber auch für sich genommen absolut überzeugen. Habe ich je einen besseren Eintopf gegessen oder gar gekocht? Ich glaube nicht.
Satt und glücklich sitzen wir noch eine kleine Weile und unterhalten uns mit der Wirtin. Wir loben ihr "Hohtoh". Sie lächelt fein; das Miso, die Sojabohnenpaste, ist hausgemacht, sagt sie. Beim Bezahlen dann die nächste positive Überraschung. Etwa zweitausend Yen sind wir schuldig. Das entspricht etwa zwanzig Euro. Viel zu günstig, denke ich. Das Trinkgeld nimmt sie nur widerwillig an und revanchiert sich mit einem selbstgehäkelten Scheuertuch bei Masae.
Die spontane Herzlichkeit der Menschen von Yamanashi berührt mich immer wieder tief. Es kommt mir vor, als seien sie eins mit ihrem schönen Land, als offenbare das Land durch sie seine Seele.
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