Zwei Busse haben wir passieren lassen, während wir in dem wunderbaren Gasthaus saßen. Das nächste Etappenziel ist das westliche Ende des Sai-Sees. Der Linienbus fährt durch den Ort Nagahama. Die Straße steigt an und überwindet den Hügel, der die beiden Seen voneinander trennt. Bergab erreichen wir das Dorf Saiko, die Pforte zum gleichnamigen See. Er ist etwas kleiner als der Kawaguchiko. Seine Oberfläche liegt auf 901 Metern, genau wie die seiner beiden weiter westlich gelegenen Geschwister Shoji und Motosu. Alle drei Seen sind durch unterirdische Wasserläufe verbunden.
Der Saiko ist enger von Bergen umschlossen als der Kawaguchisee. Entsprechend spärlich sind seine Ufer besiedelt. Nur am westlichen und am östlichen Ende findet sich je ein kleines Dorf. Und nur vom westlichen Ende kann man den Berg Fuji zur Gänze sehen.
Der Bus hält in Saikonishi. Wir gehen etwa 200 Meter zu einem Freilichtmuseum mit einer Geschichte. Hier stand das kleine Dörfchen Neba. Zwanzig Familien lebten hier. Ihre Fachwerkhäuser hatten spezielle Reisstrohdächer in einem Design, das den Helmen der Samurai nachempfunden ist. Es waren überwiegend Köhler. Bei einem ungewöhnlich starken Unwetter im Jahre 1966 kam es zu einem verheerenden Erdrutsch. 14 Häuser samt Nebengebäuden wurden unter Schlamm und Geröll begraben, 14 Familien wurden ausgelöscht. Den Bach, der damals zu einem tödlichen Monster wurde, hat man mit einem
tiefen Kanal gezähmt. Darin fließ er jetzt friedlich, ein unscheinbares
Rinnsal.
Vierzig Jahre nach der Katastrophe wurde das Freilichtmuseum eröffnet. In den meisten der renovierten oder wiedererrichteten Fachwerkhäusern stellen namhafte Künstler oder Kunsthandwerker aus und zeigen ihre Fähigkeiten. Es sind Töpfer, Seidenweber, Papiermacher und einige mehr.
Während ich fotografiere, besucht Masae die Ausstellungen. Ob ich nicht mitkommen will? Ich lehne ab. Ich kenne mich zu gut. Ich könnte den Verlockungen des Schönen nicht lange widerstehen. So lichte ich die großen Papierkarpfen ab, die über dem Flüsschen im Wind wehen, positioniere den Berg Fuji zwischen die schönen Strohdächer und achte darauf, möglichst wenige Besucher mit auf's Bild zu bekommen, was nicht ganz einfach ist. Ein anderer Fotograf, ein Herr in etwa meinem Alter, hat ein selbstgebautes Stativ dabei, das er bis auf sechs Meter ausfahren kann. Seine Kamera im MFT-Format bedient er mit der App auf seinem Smartphone. Clever, denn Drohnen sind verboten.
Masae bittet mich, in eines der Häuser zu kommen, es gäbe hier etwas wirklich Besonders. Als ich eintrete, ist es um mich geschehen. Hier stellt momentan der Künstler Kosei aus. Wir kennen ihn hauptsächlich durch die wunderschön illustrierten Kinderbücher, aus denen Masae unseren Kindern japanische Mädchen und Sagen vorlas. Er ist ein introvertierter aber freundlicher schlanker Herr. An den Wänden hängen seine großformatigen Zeichnungen. Er nutzt die traditionelle Technik mit Pinsel und Tusche, in Farbe und monochrom. Ich kaufe eine Reproduktion des roten Fujiyamas und für jedes unserer Kinder eine kleinere Zeichnung (Reproduktion) aus dem Märchenzyklus. Kosei fragt, ob er die Blätter signieren soll. Aber gerne!
Masae besucht weitere Häuser, ich hantiere draußen mit der Kamera. Von einem kleinen klaren Bach wird ein Teil in ein Beet umgeleitet. Im Kies, mitten im kalten, fließenden Wasser stehen Pflanzen, deren Blätter an Huflattich oder Stockrosen erinnern. Hier wächst Wasabi, der japanische Meerrettich.
Gleich daneben, am Haus Nr. 5, hält sich Masae schon ziemlich lange auf. Da ich unbedingt noch zum Seeufer will, gehe ich nachsehen, was es dort Interessantes gibt. Ein Herr mittleren Alters knotet Grashalme zu kleinen Heuschrecken! Die sehen sehr echt aus. Masae lässt sich Technik erklären, sieht dann doch ein, dass sehr viel Übung notwendig ist. Sie kauft zwei der hübschen Grastierchen. Ich nehme sie mit nach Deutschland, sagt sie. Oh, antwortet der freundliche Herr, da brauchen Sie ein stabiles Transportgefäß. Dabei leert er eine kleine verschließbare Plastikdose, offenbar seine private, und legt die Grashüpfer hinein. Hmm, meint er, da ist noch Platz. Zwei weitere Tierchen gesellen sich zu den anderen. Vier, sagt er, vier ist keine schöne Zahl, oder? Dabei neigt nachdenklich seinen Kopf zur Seite... und schenkt Masae noch einen fünften Hüpfer. Vier gilt in Japan als Unglückszahl. Das Wort wird "shi" ausgesprochen. Genau so hört sich das Wort für "Tod" an.
Masae will noch zur Gedenkstätte und dort für die Opfer des Bergrutsches von 1966 beten. Dafür erntet sie Dank und Hochachtung von einigen Mitarbeitern der Museums. Das, sagen sie, tun nur ganz wenige Besucher.
Ich folge dem kleinen Fluss hinab zum Seeufer. Als ich den See erreiche, kommen gerade die Angler mit ihnen Ruderbooten vom Fischen zurück. Ein Boot nach dem anderen legt am Ufer an. Wenn die Angler ausgestiegen sind, bugsiert der Bootsverleiher die kleinen Gefährte, im flachen Wasser watend, an eine bestimmte Stelle am Strand, zieht sie dort an Land und legt sie kieloben neben- und übereinander. Die Bucht mit den Ruderbooten, der dunkle Wald jenseits des Sees und die niedrige Bergkette dahinter sind eine perfekte Kulisse für Japans heiligen Berg.
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... und werden vom Bootsverleiher... |
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... sorgsam an Land gebracht |
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Angler am Ufer |
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Hier mündet der Bach von Neba in den Sai-See |
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