Abschied von Okinawa
In zwei Schritten verabschieden wir uns von
den schönen Ryukyu-Inseln. Am 20. Mai verlassen wir die Insel Ihsigaki und
landen auf Okinawa Honto, der Hauptinsel des Archipels. Wir fahren mit der Einschienenbahn bis zur Stadtmitte. Bevor wir in den Bus nach Ginowan-Shi umsteigen, wollen wir in der Innenstadt noch etwas essen. In der Nähe finden wir ein Sobaya – ein Nudelrestaurant – und bestellen Okinawa Soba. Unterdessen läuft
im Fernsehen ein Boxkampf, den die übrigen Gäste und der Wirt mit großer
Anteilnahme verfolgen. Es ist ein WBC-Weltmeisterschaftskampf im
Fliegengewicht. Der 21-jährige Daigo Higa stammt aus Ishigaki, wo wir die
letzten drei Tage verbracht haben. Er
gehört zum Boxstall von Yoko Gushiken, dem ehemaligen Weltklasseboxer aus
Okinawa (WBO-Weltmeister im Fliegengewicht 1976 bis 1981). Gushiken ist in
Japan noch immer sehr populär und speziell in Okinawa eine Legende. Der junge
Boxer Higa – er hat den gleichen Familiennamen wie Masae – gewinnt den Kampf gegen den
Mexikaner Juan Hernández durch technischen KO in der 7. Runde. Gäste und Wirt
feiern ausgelassen. Auch Masae ist sehr stolz.
Der Friedhof
Ganz in der Nähe des Elternhauses von Masae,
wo wir wieder bei ihrem ältesten Bruder und dessen Familie wohnen, liegt das
Grab von Masaes Eltern. Die Friedhöfe auf Okinawa unterscheiden sich stark von
denen im übrigen Japan. Ursprünglich wurden die Menschen vermutlich zunächst in
Höhlen zu Grabe gelegt. Bei einer Reise mit einem Cousin Masaes dessen Frau zur
kleinen Insel Hamahiga sah ich ein solches Grab, direkt an der Küste. Etwa 3-4
m über der Wasserlinie war ein Höhleneingang. Von der Stelle hat man einen
herrlichen Blick auf das Meer. Erst als ich direkt davor stand, erkannte ich,
dass die Höhle ein Grab war.
Es gibt auf Okinawa sehr viele Höhlen.
Darunter sind einige beeindruckende Tropfsteinhöhlen. Die Insel besteht
überwiegend aus Kalkstein, ist dicht bewachsen und hat reichlich Niederschläge.
Daher ist der Felsige Untergrund der Insel durchlöchert wie Schweizer Käse. Es
gibt dennoch nicht genügend Höhlen, um alle Toten zu begraben. Daher baut man
Familiengräber, die entfernt an Höhlen erinnern. Von oben betrachtet haben sie
die Form des griechischen Buchstaben Omega. Die runde Teil des Omega ist am
hinteren Ende des Grabes. Vorne ist der Eingang, eine niedrige, rechteckige
Öffnung.
Die Verstorbenen werden auf Okinawa verbrannt.
Ihre Knochen verwahrt man in speziellen Keramikgefäßen in der Grabhöhle. (In
der Familiengruft der Higas stehen – so viel ich weiß – auch die Urnen von
Masaes Mutter und anderen Familienmitgliedern.) Rechts vom Eingang ist der
Familienname angebracht.
In der verschlossenen Graböffnung stehen
Blumenvasen. Besucher verbrennen dort Räucherwerk oder bringen andere kleine
Opfergaben dar – Tee, Wasser, Reiskuchen. Zum Grab gehört ein rechteckiger
Vorhof. Dort wird die Beerdigungszeremonie abgehalten, und dort trifft sich die
Familie im April zum Fest der Verstorbenen. Man macht dann dort Picknick, isst
und trinkt, und lädt die Verstorbenen ein, mitzufeiern. Ich war einmal vor
Jahren dabei. Es ist ein heiteres Fest.
Der Friedhof liegt heute mitten in Ginowan Shi.
Der Ort ist gewissermaßen um den Friedhof herumgewachsen. Als ich zum ersten
Mal hier war, lagen zwischen dem Friedhof und dem Meer noch die bebauten Felder
der Bauernfamilien. Doch Immobilien sind lukrativer als der Anbau von
Wasserkastanien oder Bananen. Und so wuchert das Bauwesen nach und nach alle
Felder zu. Investoren verdienen sich eine goldene Nase.
Mitten im Friedhof wird gerade ein neues
Familiengrab im traditionellen Stil gebaut. Es ist schon fast fertig. Man
erkennt es leicht an der weißen Farbe. Die älteren Gräber verwittern und sind dunkelgrau.
Die meisten anderen neuen Gräber sind eher wie kleine Häuser gebaut, mit Säulen
am Eingang und einem Vordach; das scheint der aktuelle Trend zu sein. Es gibt auch
ältere Gräber, die völlig intakt scheinen, allerdings nicht gepflegt werden.
Der fruchtbare Boden, das warme Klima und die reichlichen Niederschläge lassen
diese Gräber rasch zuwachsen und verwildern.
Familiensachen
Ich verbleibe ein paar Minuten im Andenken an
meinen Schwiegervater Seiko Higa am Grab. Bis ins Alter von Jahren 90 war er
körperlich fit, täglich fuhr er mit dem Rad zum Strand, auf den gleichen Wegen,
die er seit seiner Kindheit kannte und hielt sich an keine Verkehrsregeln. Mit
92 Jahren starb er, nach kurzer schwerer Krankheit.
Masaes Vater war der unbestrittene Mittelpunkt
seiner großen Familie gewesen. Ein charismatischer und heiterer Mann, dessen
Rat in seiner Familie und darüber hinaus stets gefragt war. Er war klug und
scharfsinnig, er erkannte die Veränderungen in Okinawa und ihre Auswirkungen
auf das tägliche Leben. Fast jeden Abend trafen sich bei ihm Familienangehörige,
Nachbarn und Freunde. Man spielte, musizierte, tanzte und sang, aß und trank
zusammen. Nach seinem Tod ist niemand da, der diese Rolle ausfüllt. Masaes
ältester Bruder Masao, dessen Aufgabe das wäre, ist krank. Keines der anderen Geschwister
kann wie der Vater die Familie zusammenhalten. Und so bleibt das große
Wohnzimmer abends meist leer. Der älteste Sohn Masaos wohnt mit Frau und
Kindern im Obergeschoss des stattlichen Hauses. Er hat sich eine Außentreppe
bauen lassen. Die Innentreppe ist mit einer Tür verschlossen.
Gemeinsam mit Chyoko, Masaes ältester
Schwester, besuchen wir Hatzue, die zweitälteste Schwester Masaes. Sie wohnt
mit ihren Mann Yoshiaki in einem Neubau, eine halbe Stunde Fahrt von unserer
Unterkunft entfernt. Die Stadt hatte ihr Grundstück mit dem alten Haus für
einen guten Preis gekauft, um die neue Schnellstraße bauen zu können. Wir
sitzen zusammen, essen trinken. Ich unterhalte mich mithilfe von Masae. Nach
und nach kommen die beiden Söhne von Hatzue und Yoshiaki. Zu Feier des Tages
öffnet Yoshiaki eine Flasche Awamori. Der klare Reisschnaps Okinawas wird
mehrere Jahre in Tonkrügen gelagert. Er ist unendlich mild und hat feine
Aromen.
Hatzue und Yoshiaki sind Musiker und
Musiklehrer. Sie spielt die japanische Harfe Koto, er das Nationalinstrument
Okinawas, das Shamisen, eine dreisaitige Laute. Sie spielen die höfische Musik
des alten Königreichs von Ryukyu, Yoshiaki singt dazu in der alten Sprache. Er
hatte viele Jahre einen Lehrauftrag für alte Musik an der Universität von Naha.
Die Beiden sind über 70 und haben das Lehren aus
Altersgründen aufgegeben. Nach einem längeren Krankenhausaufenthalt wegen einer
schweren Lungenerkrankung hat Yoshiaki vor über einem Jahr auch das Musizieren
aufgegeben.
Weil ich ihn bei unserem letzten Treffen darum
gebeten hatte, packt er heute Abend das Shamisen aus. Ich nehme die Musik mit
meinem kleinen Fieldrecorder auf. Und so sitzen dann Hatzue und Yoshiaki im
Wohnzimmer und stimmen ihre Instrumente, Chyoko nimmt auch ein Shamisen zu
Hand. Langsam erwachen die alten Melodien und bald ertönt auch Yoshiakis
Singstimme, etwas brüchig zunächst, dann immer kräftiger und sicherer. Er soll
sich nicht übernehmen, sage ich zu ihm in den Pausen, aber er strahlt nur.
Seine Söhne haben Tränen in den Augen. Über ein Jahr hat der Vater nicht
gesungen. „Ja,“ sagt Yoshinori, der älteste der Söhne, „das ist unser Vater. So
kennen wir ihn.“
Es wird der schönste Abend, den ich im Kreis
der Familie Masaes verbringen darf. Über alle sprachlichen und kulturellen
Barrieren hinweg wächst zwischen uns eine tiefe Vertrautheit, ein gegenseitiger
Respekt und ein tiefes Verstehen, jenseits aller Worte.
Der Abschied
Zwei Tage vor der Rückreise gibt es noch ein
Abschiedstreffen mit Masaes Geschwistern und deren Ehepartnern in einem
schicken Hotel. Nach
längerer Autofahrt erreichen wir das Renaissance Okinawa Resort im Ort Yamada-Onna. Das Innere des
Hotels füllt ein gewaltiger Lichthof, zehn Stockwerke hoch, die Flure zu den insgesamt
über 300 Zimmern bilden die Wände des Lichthofs. Im Erdgeschoss liegt die riesige Lobby, ein Café und diverse Shops. Dort kaufe ich am Ende unseres Aufenthalts im Hotel frisches Zuckerrohr. Ich will es unbedingt probieren und fotografieren. Gegenüber dem Eingang von der
Parkplatzseite (von der wir eintraten) steht am Ende des Lichthofs ein
prächtiger erhöhter Thron, vergoldet und reich verziert. Der Gast kann sich
hier wirklich wie ein König fühlen – und entsprechend fotografieren, eventuell
mit dem Selfiestick...
Masakazu hat einen Tisch in einem der Hotelrestaurants
reserviert. Dunkles Holz, gedämpftes Licht, zuvorkommendes Personal. Die Gäste
sind überwiegend Einheimische und chinesische Touristen. An Büffet gibt es allerlei
Leckereien, lokaler, nationaler und internationaler Art, stets frisch vor den
Augen der Gäste zubereitet. Das „exotischste“ Gericht: Penne Arrabiata. Wir
machen noch ein paar Gruppenbilder vor einigen der Figuren auf der
Hotelterrasse – Sagengestalten Okinawas, modern interpretiert.
Am letzten Abend kommt nochmals die gesamte Famile in Masaes Elternhaus um uns zu verabschieden. Alle sitzen in dem großen Wohnzimmer zusammen, reden, lachen und lassen es sich gutgehen. Es wird wohl lange dauern, bis wir uns so wiedersehen können. Und schließlich naht das Unvermeidliche. Alle
Geschwister begleiten uns zum Flughafen. Wir verabschieden uns und ermahnen die
Geschwister, nur ja bald zum Gegenbesuch zu kommen. Wir fliegen nach Tokyo, wo
wir noch einen Tag verbringen wollen, bevor wird nach Deutschland aufbrechen.
Vernachlässigtes Grab |
Altes Höhlengrab auf Hamahiga |
Hatzue, Yoshiaki und Chiyoko machen Hausmusik |
Koto-Detail |
Shamisen-Detail
Gruppenfoto auf der Hotelterrasse |
Frisches Zuckerrohr |
Mehr Bilder der Japanreise gibt es auf Flickr: https://www.flickr.com/photos/hwspies/albums/72157681266380404
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