Rückflug und Reflektion
So sitzen wir nun also wieder auf unseren
Plätzen im Dreamliner. Mehr als ein Monat ist seit unserem Start in Frankfurt
am Main vergangen. Wieder umgeben uns das gedämpfte Sirren der Düsenturbinen,
das leise Stimmengewirr der Mitreisenden und die zuverlässige Freundlichkeit
der hübschen Stewardessen.
Dieser 26. Mai wird ein langer Tag für uns. Zu
den normalen 24 Stunden addiert sich der Zeitunterschied von Japan nach
Europa, so dass wir insgesamt auf 32 Stunden kommen. Wir starten um 11.25 Uhr
Ortszeit in Tokio und landen in Frankfurt um 16.30 MESZ. Die Flugroute führt
wieder über die schier endlosen Weiten Sibiriens. Auch jetzt, kurz vor
Sommerbeginn, ist das weite Land schneebedeckt. Die wilden Flüsse Sibiriens, gewunden wie endlose Schlangen, liegen in Eis erstarrt. Beim Blick nach
unten frage ich mich, was für Menschen leben in diesen abgelegenen Orten, die
Turukhansk heißen, oder Yanov Stan, oder Urengoy. Was tun sie während der
kalten Jahreszeit, die hier offensichtlich acht Monate oder länger dauert?
Über weite Strecken scheint das gefrorene Land
unter uns völlig unberührt zu sein. Doch wenn ich genau hinschaue, sehe ich hin
und wieder Straßen, die über zig Kilometer geradeaus führen. Und manches Mal
erkenne ich dünne Linien, eigentlich zu schmal für Straßen; sie führen schnurgerade bis zum
Horizont, treffen sich im rechten Winkel und bilden ein weitmaschiges Netz
großer Quadrate. Was ist ihr Zweck? Ist es eine technologische Beschwörung, um
die überwältigende Weite des Landes zu bannen? Auf dem kleinen Monitor vor mir
verfolge ich unsere Flugroute virtuell. Seltsame Ortsnamen, wie im Märchen
erdacht, tauchen am Horizont auf und begleiten uns für Stunden. Zwischen
Karabula im Süden und Chatanga im Norden kriecht unser Flugzeug westwärts.
Um ein wenig Abwechslung zu haben, scrolle ich
durch das Onboard-Unterhaltungsprogramm. Einen Film anschauen? Ein
Computerspiel probieren? Ich entscheide mich für klassische Musik: Mozarts Don
Giovanni. Als die ersten Takte der Ouvertüre aus dem Kopfhörer dringen, steigen
mir Tränen in die Augen. Eine Welle von Kraft und Schönheit trifft mich völlig
unvorbereitet und reißt mich in einem Strudel der Emotionen. Und wieder einmal
spüre ich, wo ich zuhause bin. In Europa.
Was bringe ich diesmal aus Japan mit, außer
Geschenken für die Verwandtschaft und Datenträgern mit Fotos und Tondateien? Sicherlich
die Erinnerung an Menschen, die uns herzlich aufgenommen haben, an kleine
Begegnungen, bei denen ich ein Stück Japan zu begreifen glaubte. Es ist der
unglaubliche Sinn für Schönheit, der aus vielen Dingen spricht, den Gebäuden,
den Gärten, selbst aus der Art, wie man in Japan das Essen reicht. Ich glaube,
es ist das Bewusstsein über die Beseeltheit der Dinge, dass den Umgang der
Japaner mit der Natur aber auch mit selbstgeschaffenen Dingen prägt. Und es
scheint so zu sein, dass das Geld in Japan zwar wichtig ist, aber noch nicht
das Allerwichtigste. Der Mann, der angestellt ist, im Park das Moos vom Laub
freizufegen, die heiteren Priesterinnen im Tempel von Kyomizudera, die
freundlichen Reinigungskräfte in den Schnellzügen – haben mir gezeigt, dass in
Japan der Mensch noch einen hohen Stellenwert hat, offenbar einen höheren als
bei uns.
Das sind meine subjektiven Ansichten, gewonnen
aus Momentaufnahmen. Ein tieferer Einblick ist mir versagt geblieben. Wo die
eigentlichen Konfliktlinien innerhalb der japanischen Gesellschaft verlaufen,
habe ich nicht sehen können. Dazu war der Aufenthalt zu kurz, waren die
Begegnungen zu oberflächlich. Dennoch fühle ich mich bereichert und beschenkt.
Der Pilot fliegt die Maschine inzwischen über
vertrautem Terrain. Ich sehe unter mir die bekannten Muster von Feldern und
Dörfern, Wäldern und Seen, und da ist auch eine Autobahn: wir sind fast
zuhause. Über Sachsen-Anhalt beginnt das Flugzeug zu sinken, der Thüringer Wald
zieht unter uns vorbei, Fulda, und schon schwebt der Dreamliner über das Rhein-Main-Gebiet. Der
Flugzeugführer lässt Frankfurt links liegen, wendet hinter Mainz im engen Bogen
und beginnt den direkten Anflug zum Frankfurt Airport. Sanft setzt die große
Maschine nach knapp 9400 Kilometern auf der Landebahn auf. Wir haben es
geschafft.
Damit endet das Blog. Mein Plan, ist die Texte zu redigieren und zu korrigieren und zusammen mit einer Auswahl von Bildern als E-Book zu publizieren.
Pforzheim im September 2017
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